Politik liefert Stichworte für Neonazis

geschrieben von Interview: Markus Bernhardt

24. September 2010

In der Zeitschrift „Junge Welt“ vom 25. September erschien ein Interview mit Kurt Heiler, Sprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) in Aachen. Aus Platzgründen konnte das Interview nicht vollständig veröffentlicht werden. Hier das Interview im vollen Wortlaut.

Seit geraumer Zeit mehren sich Berichte über kontinuierlich von Neonazis verübte Anschläge und gegen Antifaschisten gerichtete Bedrohungen im Kreis Aachen. Wie stellt sich die Situation für Sie dar?

Die Naziszene in der Region Aachen ist seit langem eine der aktivsten in NRW. Ihre Stärke ist der Bündnischarakter mit Freier Kameradschaft, so genannten Autonomen Nationalisten und der NPD. Die Tradition dieser Zusammenarbeit ist durch die verbotene Wiking-Jugend begründet worden, die Jahrzehnte lang ihre kriminellen Aktivitäten von Stolberg aus unter Duldung des Staates entfalten konnte. In der 80er Jahren machte die Wiking-Jugend gleichzeitig Wahlkämpfe für FAP, NPD und DVU. Die Stoßrichtung ihrer Aktivitäten entwickeln die Neonazis der Region in Anlehnung an ihre historischer Vorbilder: die NSDAP. Weil der Faschismus als Bewegung zunächst einmal eine gegen die gesamte Linke gerichtete Kraft war und ist, sind Linke am häufigsten Opfer neonazistischer Gewalt bzw. deren Androhung. Der Hass der Neonazis richtet sich dabei vor allem gegen junge Linke. Bisher ist es den Nazis nicht gelungen, Antifa-freie Zonen zu schaffen, aber ihr Terror hat diese Stoßrichtung. Der Antisemitismus der Neonazis dient der inneren Identitätsstiftung als Nachfolgeorganisation der NSDAP. Aus diesen Gründen kann der Hitler-Darsteller Axel Reitz in der Aachener Region überhaupt eine bedeutende Rolle spielen, obwohl er ja nicht hier wohnt und in der Naziszene außerhalb Aachens durchaus erkannt wird, was für ein -gefährlicher- Spinner der Mann ist. 

Gegen einen 25 Jahre alten Mann ist am Donnerstag in Aachen wegen der Planung von Sprengstoffattentaten Haftbefehl erlassen worden. Ist damit die Grenze zum Rechtsterrorismus überschritten?

Neonazismus ohne kriminelle Elemente bis hin zum Terrorismus ist kaum vorstellbar. Der Terror gegen Menschen, die den Nazis nicht passen, ist notwendiger Bestandteil der Ideologie und Praxis. sonst wären es ja sogenannte Rechtspopulisten, die versuchen, ihre rassistischen Ziele und ihren Militarismus in der und durch die parlamentarische(n) Demokratie durchzusetzen. Einer der Gründer der Wiking Jugend, der mittlerweile verstorbene Walter Matthei, musste in den 50er Jahren nach Spanien auswandern, wo er im Feld zwischen spanischen Faschisten und der faschistischen spanischen Armee für den Waffennachschub des europäischen Neonaziterrorismus verantwortlich war. Zum Ende seines Lebens betrieb Matthei einen Buchladen in der Aachener Innenstadt, der zum Treffpunkt rechter Skins wurde. In den 90 er Jahren wurde der wegen Sprengstoffbesitzes verurteilte Markus Kalenborn in Aachen zum NPD Vorsitzenden. Die neuen Entdeckungen über Aachener Neonazis und ihre Pläne zu Sprengstoffanschlägen können nicht wirklich überraschen. AntifaschistInnen haben vor dieser Entwicklung gewarnt, ohne dass die zuständigen Stellen in Aachen eingegriffen hätten. Die Forderung nach dem Verbot dieser Neonaziorganisationen muss nachhaltig erhoben werden

Wer trägt die Verantwortung für das Erstarken der Neofaschisten?

Monokausale Erklärungen sind meist oberflächlich. Insgesamt ist das Erstarken des Neofaschismus eine gesellschaftliche Realität, die auch gesamtgesellschaftlich beantwortet werden muss. D.h. die Bekämpfung des Neofaschismus kann nicht allein Aufgabe der Polizei sein, sie ist auch kein Problem „der Justiz“ oder „der Politik“. Die Antwort auf die Bedrohung der Demokratie durch den Neofaschismus muss sein, dass jede/jeder nach seinen Möglichkeiten handelt. Da erkennen wir aber erhebliche Defizite: bei der Politik, weil sie immer wieder Stichworte für die Neofaschisten liefert, so dass diese sich als „Vollstrecker einer Mehrheitsmeinung“ darstellen können, vor allem wenn die Schuld an gesellschaftlichen Problemen einer rassistisch definierten Gruppe („die Ausländer“ zugeschoben wird. Polizei und Justiz haben die sogenannte „Extremismusthese“ zum Leitbild ihres Handelns gemacht. Sie haben eine Ideologie- die angebliche Gleichheit von links und rechts unabhängig der antagonistischen Inhalte- die sie der Realität überstülpen. Wer mit derart großem Aufwand nach dem linken Feindbild fahndet, läuft Gefahr, die Realität zu verbiegen und zu verdrängen, damit oder bis sie der Ideologie entspricht. Konkret: Im Jahre 2008 überfielen ca 30 bewaffnete Neonazis eine friedliche antifaschistische Demonstration in Aachen. Die Polizei hatte für die 200 meist linken Teilnehmer der Demo 8 Polizisten abgestellt. Diese Einladung nahmen die Neonazis gern an. Es gab Verletzte, vor allem das Grundrecht auf Demonstration gehörte zu den Verletzten. Zivilpolizisten schlugen auf Linke ein, statt die Demonstration zu schützen. Angeklagt wurde der Leiter der Antifa-Demo und musste ein Jahr später zu Lasten der Staatskasse freigesprochen werden. Die Drahtzieher des Neonaziüberfalls sollen angeblich jetzt, also zweieinhalb Jahre später, erstmals vor Gericht. Sogenannte Mitläufer wurden ermahnt und mussten ein Buch lesen. Diese Zeichen der Justiz haben die Nazis so verstanden, dass sie ungehindert und ungestraft Straftaten verüben können. Nachdem eine Anti-Antifa-Terrorgruppe auf einer Web-Seite Antifaschisten mit dem Tod bedrohten und besonders einen Aussteiger aus der rechten Szene einschüchtern wollten, erklärte die Aachener Staatsanwaltschaft, sie werte die Bedrohung mit dem Tod als Meinungsäußerung und denke nicht daran, die kriminellen Nazis zu verfolgen. Auch diese Zeichen wurden gesehen. Mit einem Wort: Polizei und Justiz in der Aachener Region wollen nicht und können nicht dazu beitragen, den Neonazis in den Arm zu fallen. Nachdem sich BKA und LKA eingeschaltet haben, sind erste Erfolge in Form von Verhaftungen sichtbar.

Am 2. Oktober findet in Alsdorf eine Regionalkonferenz antifaschistischer Initiativen unter dem Motto „Aktiv gegen Rechts – Gemeinsam diskutieren, informieren, handeln“ statt, die von einem breiten Bündnis – darunter sogar die FDP – getragen wird. Haben die gewalttätigen Aktionen der Neonazis deren Gegner zu gemeinsamen Handeln motiviert?

Die Regionalkonferenz in Alsdorf ist die zweite in der Region. Es geht hier um Vernetzung von Bürgerinitiativen, die sich in den Gemeinden und Städten den Neonazis in den Weg stellen. Eine der Gründe für die Konferenz sind notwendige Absprachen zu Aktionen gegen den geplanten Naziaufmarsch Anfang April 2011 in Stolberg. Seit mehreren Jahren terrorisieren die Nazis Stolberg, weil sie einen Streit unter Jugendlichen mit leider tödlichem Ausgang zur Konstruktion eines neuen Märtyerkults ausnutzen, dies übrigens gegen den erklärten Willen der Angehörigen des Opfers. Jahr für Jahr kommen ungefähr 500 Neonazis in bundes- teilweise europaweiter Mobilisierung nach Stolberg. Im ersten Jahr konnten sie marodierend durch das Stolberger Ausländerviertel ziehen und dort Pogromstimmung verbreiten. „Auch Türken haben Namen und Adressen-kein Vergeben- kein Vergessen“ riefen die von der Polizei kaum in Schach zu haltenden Neonazis. Im Eingangsreferat der Konferenz wollen wir der Frage nachgehen, wie sich der Rassismus in der Gesellschaft immer wieder neu erfindet. Außerdem wollen wir die Geschichtsarbeit in den Orten vernetzen. Die Impulse für die Konferenz gehen von den Bewegungen gegen Rechts in der Region aus. In die Vernetzung nehmen wir auch Politiker der Region auf, mit denen wir oft Seite an Seite gegen die Neonazis demonstrieren, an die wir aber auch Erwartungen hinsichtlich der Kooperation haben. Wir freuen uns deshalb, wenn die Bürgermeister aus vier Städten zur Teilnahme an der Konferenz aufrufen und uns in Alsdorf besuchen wollen.