Die Behandlung und das Erleben der in der NS-Zeit verfolgten Sinti und Roma nach 1945

geschrieben von VVN-BdA Aachen

21. März 2023

, , , , , , , , ,

Ma Bistar! Vergesst nicht! Am 4. März 2023 am Mahnmal für die, am 2. März 1943, aus Stolberg deportierten Roma. Gustav-Wassilkowitsch-Platz (Hauptbahnhof Stolberg), Stolberg.
Redebeitrag von T. Jülicher, Gruppe Z – Stolberg.

Mahnmal für die, am 2. März 1943, aus Stolberg deportierten Roma.
Gustav-Wassilkowitsch-Platz (Hauptbahnhof Stolberg), Stolberg.

Die Planer, Organisatoren und Vollstrecker des Völkermords an den Sinti und Roma blieben ungestraft und konnten nach dem Krieg ihre Karrieren unbehelligt fortsetzen; beispielsweise Paul Werner, SS-Standartenführer und für die Planung der Maideportationen zuständig, machte bis in die 60er Jahre hinein Karriere als Ministerialbeamter in Baden-Württemberg; Robert Ritter, Leiter des Rassenhygienischen Instituts, der den Völkermord mit vorbereitete, leitete nach 1945 in Frankfurt die Fürsorgestelle für Gemüts- und Nervenkranke und Joseph Eichberger, der im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) die Zigeunertransporte“ organisierte, wurde Leiter in der Landfahrerzentrale“ im Landeskriminalamt in München.

Die Landfahrerzentral war nichts anders als die Fortführung der Vorgehensweise aus der NS-Zeit. Die Beamten, dieselben, wie in der NS-Zeit: Hans Eller, Georg Geyer, August Wutz und Joseph Eichberger, setzten mit den alten Rassenakten aus Berlin den Rassengutachten, Deportationsunterlagen, Merkmalskarteien und sogar dem Verzeichnis der Konzentrationslager-Nummern und unter direkter Anwendung der NS-Ideologie die erneute Sondererfassung und ethnische Diskriminierung fort.

Erst 1984 teilte Staatssekretär Spranger nach einem Gespräch im Bundesinnenministerium mit, dass die „Landfahrer“-Erfassung beendet werde und die rassistische Bezeichnung auch im internen Sprachgebrauch nicht mehr verwendet werde. Es wurde das neue Kürzel HAWO“ für häufig wechselnder Aufenthaltsort“ in allen Bundesländern eingeführt.

Es ist nicht verwunderlich, dass angesichts der unübersehbaren Kontiunitätslinien der „NS-Zigeunerpolitik“ im Nachkriegsdeutschland den anspruchsberechtigten Sinti und Roma ihre Wiedergutmachungszahlungen vorenthalten wurden.

Die Wiedergutmachungsämter hatten sich für die erforderlichen Gesundheits-untersuchungen an Ärzte und Gutachter gewandt, an die Sinti und Roma furchtbare Erinnerungen hatten; viele waren an den rassehygienischen Untersuchungen beteiligt gewesen oder vertraten biologistische Erklärungsmodelle. Sie traten bis in die sechziger Jahre hinein in Wiedergutmachungsverfahren als Gutachter auf. Romani Rose dokumentiert ein Beispiel: Als Anna Eckstein 1951 in Karlsruhe einen Antrag auf Wiedergutmachung stellt, wird sie von der Kriminalpolizei vorgeladen und steht plötzlich vor Leo Karsten, dem ehemaligen SS-Mann und Leiter der „Dienststelle für Zigeunerfragen“ im Berliner Polizeipräsidium. (…) Wie damals wird sie erkennungsdienstlich behandelt. (…) In den „alten Zigeunerakten“ finden sich auch ihre Deportationsnummer und sämtliche Angaben über ihre Familie. Am Ende wird Anna Ecksteins Antrag mit der Bemerkung abgelehnt, „dass sie im Mai 1940 ja doch lediglich aus Sicherheitsgründen nach Polen evakuiert worden sei“.

Während es für die meisten Überlebenden nahezu unmöglich war, ihre Verfolgung detailliert mit Dokumenten zu belegen, arbeiteten die Behörden mit den ehemaligen NS-Akten, in denen umfangreiche Belege über die Personen, Familien, über administrative Maßnahmen, ihre Kriminalisierung und Entrechtung vermerkt waren. Den Opfern wurden diese Akten nicht zugänglich gemacht. Sie galten offiziell als verschwunden, verloren, verbrannt oder ausgesondert; tauchten bisweilen auch unvermutet wieder auf.

Nachdem das Bundesarchiv 1980 vorgesehen hatte, das Material zu übernehmen, bat sich Sophie Ehrhardt ein Verfügungsrecht bis zum Jahr 2000 aus, weil sie „dreieinhalb Jahre an der Forschungsstelle von Herrn Dr. Ritter in Berlin tätig gewesen war“. Das Bundesarchiv gewährte ihr die Bitte. Es bedurfte erst einer Besetzung des Tübinger Universitätsarchivs durch eine Gruppe von Sinti, damit diese Akten endgültig ins Bundesarchiv gebracht wurden. In der Bundesrepublik waren diese Akten 25 Jahre lang Grundlage für rassistische Publikationen von EthnologInnen, wie Sophie Ehrhardt und hauptsächlich durch den Arzt Hermann Arnold, der einen anderen Teil der Akten übernommen hatte.

Wie tief der Antiziganismus in der Bundesrepublik noch verankert war zeigt, dass Skandalurteil des Bundesgerichtshofes (BGH) zur Wiedergutmachung vom Januar 1956 es wies die Ansprüche einer Überlebenden ab, indem ihre Deportation als Umsiedlung gewertet wurde, die keine nationalsozialistische Gewaltmaßnahme im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes darstelle. In der Urteilsbegründung wird der antiziganistische Gehalt offenkundig:

Zitat „Die Zigeuner neigen zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und zu Betrügereien. Es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe zur Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist.“

Bis 1963 hatte dieses Urteil, das die rassische Verfolgung der Minderheit vor 1943 ausgeschlossen hatte, Bestand. Dann wurde es nuanciert verändert:

Zitat „Im Einzelfall könnten für die Verfolgung der Sinti und Roma nun schon ab Dezember 1938 rassische Gründe mit ursächlich“ gewesen sein.

Eine Distanzierung von der rassistischen Charakterisierung der Minderheit fand nicht statt. Diese minimale Veränderung war zu spät für die meisten Sinti und Roma. Zwar regelte der Gesetzgeber, dass viele einen neuen Antrag auf Entschädigung stellen durften, wenn der erste Antrag wegen des BGH-Urteils zurückgewiesen worden war. Sinti und Roma, die auf Grund der ablehnenden Rechtsprechung erst gar keinen Antrag gestellt hatten, gingen jedoch leer aus. In 2016 fand ein gemeinsames Symposium des BGH und des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma zur Aufarbeitung der Entschädigungsrechtsprechung des Bundesgerichtshofs statt. Im Zentrum stand dieses Grundsatzurteil von 1956. Eine Änderung hat sich daraus nicht ergeben. Bis heute hat dieses Urteil von 1956 bzw. 1963 unverändert Bestand.

Nach dem Krieg wurde die personelle Kontinuität und die strukturellen Grundlagen der NS-Zigeunerpolitik nicht hinreichend gebrochen und abgeschafft; vielmehr leugneten Juristen bis zum BGH den Völkermord an den Sinti und Roma und übernahmen in ihren Urteilen explizit NS-Sprachregelungen; relativierten Mediziner und Amtsärzte die physischen und psychischen Verfolgungs- und Gesundheitsschäden der Überlebenden; nahmen Polizeibeamte Sondererfassungen der Sinti und Roma vor und setzten die ethnische Diskriminierung fort und schließlich versäumten es die Gesellschaftswissenschaften, den Völkermord an den Sinti und Roma aufzuarbeiten, über den Antiziganismus aufzuklären und die gesellschaftliche Ausgrenzung zu analysieren.