90 Jahre nach Hitler: Der Wandel des Faschismus zum Egofaschismus

geschrieben von VVN-BdA Aachen

15. Januar 2023

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Vor 90 Jahren, am 30. Januar 1933, ernannte Reichspräsident Paul von Hindenburg den schon damals berüchtigten Naziführer Adolf Hitler zum Reichskanzler. Die Nazis, bis dahin bloß eine Partei unter vielen und zugleich, in Form der SA (Sturmabteilung), eine bewaffnete Bürgerkriegsmiliz mit reichhaltiger Erfahrung im Totschlagen und Verstümmeln politischer Gegner, übernahmen die Staatsmacht, das Kommando über Polizei und Reichswehr. Schon einen Monat später, am 1. März 1933, setzten sie sämtliche Grundrechte ihrer Gegner außer Kraft und errichteten eine zwölfjährige Terrordiktatur mit KZ-Lagern, wie sie Europa noch nicht erlebt hatte. Auch diesen Schritt machte Reichspräsident Hindenburg mit seiner Unterschrift unter einer »Notverordnung« möglich. 90 Jahre später sind noch immer über 70 Straßen und Plätze in Deutschland und der Damm zur Insel Sylt nach dem Hitler-Ermächtiger benannt.1

Als Antifaschistinnen und Antifaschisten fragen wir uns, was diese Ereignisse für uns heute noch bedeuten. Lauern in der Gegenwart vergleichbare Gefahren, die wir noch rechtzeitig bannen können, wenn wir wachsam genug sind? Übrigens bedeutet das Modewort »woke« nichts anderes als wachsam. Welche Lehren für heutige Konflikte können wir aus dem traurigen Schicksal der damaligen Kommunisten, Sozialdemokraten und anderer Nazigegnerinnen ziehen, die es nicht vermocht hatten, den Siegeszug des brutalsten Politikers der damaligen Zeit zu stoppen, und diese Schwäche mit dem Verlust ihrer Heimat, ihrer Freiheit, ihres Einkommens, ihres Lebens bezahlen mussten?

Die Motive der Hitler-Ermächtiger

Die Machtübertragung an Hitler im Januar 1933 ging auf eine Palastintrige im Umfeld Hindenburgs zurück. Eine Kaste von Industriellen, Großagrariern, Offizieren und Juristen erhoffte sich von einer Naziregierung Vorteile und Schutz vor drohenden Nachteilen. Einige von ihnen hatten sich 1932 besonders stark für eine Kanzlerschaft des ewig brüllenden Schnauzbarts eingesetzt: der Stahlindustrielle Fritz Thyssen, der deutschnationale Pressezar Alfred Hugenberg, der frühere Publizist und Ex-Kanzler Franz von Papen, der Staatssekretär Otto Meißner, die Großagrarier Eberhard Graf von Kalckreuth und Elard von Oldenburg-Januschau, die Bankiers Hjalmar Schacht, Kurt von Schröder und Emil Georg von Stauß. Sie hatten vor allem zwei Motive: Der Diktator sollte die Arbeiterbewegung unschädlich machen, und er sollte eine massive Aufrüstung in Gang setzen und so die Perspektive eröffnen, dass Deutschland wieder Kriege gegen Nachbarländer führen konnte. Schon vom klerikalkonservativen Kanzler Brüning, von Papens Kabinett der Barone und vom Hintergrund-Militärdiktator Schleicher hatten sie sich erhofft, dass sie die Wirtschaftskrise dazu nutzen würden, Industrielle und Großagrarier von den lästigen Kompromissen zu befreien, die sie nach der Novemberrevolution 1918 hatten eingehen müssen: demokratische Rechte für alle, Acht-Stunden-Tag, Betriebsräte, Arbeitslosenversicherung, Tarifverhandlungen, kleinbäuerliche Siedlungspläne im deutschen Osten. Doch bis Ende 1932 hatten sie einsehen müssen: Der Weg zurück in den monarchischen Obrigkeitsstaat war nicht mehr gangbar; dazu war das deutsche Volk nach Kriegsniederlage und Revolution zu stark politisiert. Eine Formierung von oben funktionierte nicht; die Wirtschaftskrise entfaltete eine unkontrollierbare Eigendynamik. Um ihre alten Privilegien wiederherzustellen und alle Widerstände zu beseitigen, brauchten sie nun selbst eine Massenbewegung, die äußerlich revolutionär auftrat.

Dafür nahmen die Hintermänner gewisse Gefahren in Kauf: Hitlers bäuerlicher und kleinbürgerlicher Massenanhang war schwer zu kontrollieren und hatte Eigeninteressen, die mit den Interessen der Rüstungsindustriellen, Offiziere, hohen Beamten usw. nicht identisch waren. Auch war in diesen Kreisen umstritten, gegen welche Nachbarstaaten sich der Kriegskurs zuerst richten sollte: gegen Polen? gegen Frankreich? gegen die Sowjetunion? Mit dem extremen Antisemitismus Hitlers waren auch nicht alle dieser Herren einverstanden, pflegten einige von ihnen doch gute Geschäftsbeziehungen mit Juden. Damit alle diese Einwände verblassen konnten, musste die Gefahr, die Hitler beseitigen sollte, als groß genug empfunden werden. Das war 1930-33 der Fall: Es gab damals fast acht Millionen Arbeitslose, die eine potenziell revolutionäre Masse bildeten; eine kommunistische Partei, die bei jeder der häufigen Wahlen mehr Stimmen bekam – zuletzt 16 % im November 1932 – und zudem von einer auswärtigen Macht, der Sowjetunion, unterstützt wurde. Die russische Oktoberrevolution 1917, die deutsche Novemberrevolution 1918, so beschränkt letztere in ihren Ergebnissen geblieben war, steckten den Herren in den Knochen, auch wenn sich die KPD-Führung selbst 1932 nicht in einer revolutionären Situation sah.

Bedrohte Privilegien heute

Gibt es in der heutigen Zeit eine vergleichbare Konstellation, die Personen mit traditionell gefestigten Machtpositionen dazu verleiten könnte, einem ausgesucht brutalen Politiker (oder einer Politikerin wie Sarah Palin oder Giorgia Meloni) mit gewaltbereitem Massenanhang zur Regierungsgewalt zu verhelfen? Meine These ist: Ja, es gibt solche Konstellationen. Es gibt zwar keine Angst vor einer sozialen Revolution mehr wie 1933, aber drei internationale Bewegungen, die traditionelle Privilegien bedrohen: die Frauenbewegung (im weitesten Sinne), die antikolonialistische Bewegung und die Klimaschutzbewegung. Die Frauenbewegung bedroht die traditionelle Herrschaft von Männern über Frauen und das patriarchale Familienbild. Die antikolonialistische Bewegung bedroht die traditionellen Vorrechte der Weißen gegenüber Schwarzen und anderen »Menschen mit Farbe«. Die Klimaschutzbewegung bedroht die traditionelle wirtschaftliche Dominanz der Kohle-, Öl-, Stahl-, Auto-, Chemie- und Zementindustrie. Alle drei Bewegungen vermischen sich mit einer generellen wirtschaftlichen Entwicklung, der Verdrängung alter Industrien durch neue Dienstleistungsunternehmen, in denen Frauen, Migrantinnen, Migranten und Angehörige ethnischer Minderheiten eine relativ große Rolle spielen.

An den Beispielen Usa (Trump), Brasilien (Bolsonaro), Frankreich (Le Pen) und Italien (Meloni) können wir studieren, wer sich durch diese Entwicklungen bedroht fühlt und wie diese Ängste genutzt werden. In Usa waren und sind es vor allem Unternehmer sowie Arbeiterinnen und Arbeiter der genannten Industriezweige, die es jahrzehntelang gewohnt waren, als Garanten des Wohlstands gefeiert, bevorzugt subventioniert und bezahlt zu werden, und zwar auf Kosten des Gesundheits- und Bildungswesens, öffentlicher Infrastruktur, der Nahrungsmittelversorgung und anderer Dienstleistungs-felder. Da sie ihre Privilegien durch den Welthandel, den Klimaschutz oder die von Obama eingeführte Krankenversicherung bedroht sahen, haben sie nach einem Mann gesucht, der das Land abschotten,2 möglichst brutal mit dem ganzen Umwelt-, Sozial-und Frauen-»Plunder« Schluss machen und die gute alte Zeit der Pickup-Potentaten wiederbringen sollte. Und zwar gerne mit etwas Gewalt, gerne unter Bruch parlamentarisch-demokratischer Regeln. Trump versprach ehemaligen Kohlekumpeln in West-Virginia, „mit dem Krieg gegen die Kohle Schluss zu machen“ und eine Renaissance der Kohle herbeizuführen.

In Brasilien waren es ganz ähnliche Schichten – auch dort gibt es eine Öl-, Auto-, Bergbau- und Chemieindustrie – sowie zusätzlich die traditionell kriminelle Kaste der Großagrarier und Rinderzüchter, die weiterhin hemmungslos den Regenwald zerstören will, um die freiwerdenden Flächen mit Sojaplantagen und Rinderzuchtbetrieben füllen zu können. Da diese Kaste es gewohnt war, ihre kurzfristig-egoistischen Interessen mit bewaffneter Gewalt gegen Widerstände durchzusetzen, auch gegen gesetzestreue Behördenvertreter, kam eine kriminelle, gewaltbereite Note in die Wählerbewegung Bolsonaros hinein und gibt ihr einen lumpenfaschistischen Charakter. In Frankreich und Italien appellieren die Faschistinnen Le Pen und Meloni ebenfalls besonders stark an Industriearbeiter in traditionellen Industrien, namentlich der Autoindustrie. Le Pen hatte damit 2017 und erneut im April 2022 Erfolg.3

Waren die Wähler schuld?

Entgegen eines in Deutschland verbreiteten Geschichtsmythos wurde Hitler nicht von seinen Wählerinnen und Wählern an die Macht gebracht, sondern von einer kleinen Runde mächtiger Hintermänner. Hitler hatte im November 1932 eine Wahlniederlage erlitten: Der Stimmenanteil der Nazipartei war bei den Reichstagswahlen von 36 auf 31 % gefallen. Es war die erste (und einzige) deutliche Wahlniederlage, die die Nazis erlitten hatten, und die Partei befand sich im Januar 1933 in einem desolaten Zustand. Der Mann, den sie zum Kanzler kürten, war ein Wahlverlierer. Auch das haben Trump und Bolsonaro mit ihm gemeinsam: Trump hat im November 2016 weniger Wählerstimmen bekommen als seine Gegenkandidatin Hillary Clinton. Dennoch wurde er, dank eines veralteten, die Privilegien der weißen Landbevölkerung stützenden Wahlsystems, zum Präsidenten erklärt. Als er die nächste Wahl im November 2020 dann so deutlich verloren hatte, dass ihn auch das verrottete Wahlsystem nicht retten konnte, erkannte er das Wahlergebnis nicht an und rief seine Anhänger zum Putschversuch auf. Er lügt ständig vom »gestohlenen Wahlsieg«, weil er weiß, dass sein eigener angeblicher Wahlsieg von 2016 tatsächlich ein gestohlener gewesen war. Die Methode, sämtliche Spieße einfach umzudrehen, von zwei möglichen Lügen stets die frechere (und möglichst auch die geschmacklosere) zu verwenden, haben Trump, Bolsonaro und ihr Vorläufer Berlusconi eins zu eins von Goebbels und Streicher übernommen. Daran sollten wir zum 90. Jahrestag erinnern.

Bolsonaros Aufstieg in Brasilien begann mit dem über rechtskonservative Richter lancierten Putsch gegen die gewählte Präsidentin und Sozialistin Dilma Rousseff. Die offene Missachtung und Demontage demokratischer Wahlergebnisse gehörte von Anfang an zu seinem Arsenal. Im August 2021 sagte er, dass er für sich nur drei Alternativen sehe: entweder werde er verhaftet, falle einem Attentat zum Opfer, oder er werde wiedergewählt. Vor den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2022 kündigte er vorsorglich an, dass er eine etwaige Wahlniederlage nicht akzeptieren werde. Er hofierte die Generäle und lancierte das Gerücht, dass ihn das Militär notfalls auch nach einer Wahlniederlage ins Amt putschen werde. Bei Le Pen und Meloni sind noch keine entsprechenden Äußerungen aufgefallen. Allerdings beruht auch Giorgia Melonis Wahlsieg in Italien in starkem Maße auf einem schräg konstruierten Wahlsystem, das ihrer Partei für 26 % der Wählerstimmen 30 % der Sitze im Abgeordnetenhaus und 33 % der Sitze im Senat verschafft hat.

Nach der Reichstagswahl im März 1933 hatte die Nazipartei trotz Kanzlerbonus immer noch nicht die absolute Mehrheit der Stimmen und der Reichstagsmandate erreicht, die Goebbels eigentlich schon bei der Juliwahl 1932 erwartet hatte, sondern nur 41 %. Es bleibt dabei: Hitler wurde nie von »den Deutschen«, also der Mehrheit der deutschen Wähler, in einer freien Wahl zum »Führer« gewählt. Er musste abermals eine Koalition mit einer anderen Partei, Hugenbergs Deutschnationalen, bilden, um die Mehrheit im Reichstag zu erringen. Die offene Manipulation von Wahlergebnissen ging damit weiter, dass die Reichstagsmandate, die die KPD gewonnen hatte, sofort annulliert wurden, während die gewählten Abgeordneten bereits in KZ-Lagern saßen. 1933 ging die Rechnung auf, weil die demokratischen Regeln der Weimarer Republik in weiten Kreisen der Bevölkerung desavouiert waren; die Nazis nannten die Demokratie verächtlich das »System«.

Für die VVN-BdA interessant ist die Frage, warum Trump und Bolsonaro annehmen, dass es heute wieder möglich ist, die bürgerliche Demokratie ohne jede Verstellung oder Geheimniskrämerei in den Dreck zu treten. Offenbar schätzen diese Ego-Faschisten das Ansehen der Demokratie in den Bevölkerungskreisen, auf die sie sich stützen oder stützen wollen, als ähnlich verrottet und demontiert ein wie Hitler damals das Ansehen des »Systems«. Diese Parallele möge bedenken, wer heute verächtlich vom »System« spricht; eine Marotte, die nicht nur in der AfD und bei »Reichsbürgern«, sondern auch in der autonom-anarchistischen Szene üblich ist. Ein zentrales Element der von Gauland, Höcke, Weidel usw. betriebenen Propaganda ist, ganz ähnlich wie bei Trump, der Angriff auf angebliche Eliten, auf angeblich staatstragende, systembildende Kreise, die vom Klimaschutz, von Frauenemanzipation, von der Einwanderung oder sogar von der Aufnahme von Flüchtlingen profitieren. Die AfD wähnt sich in einer Diktatur der Sozialarbeiterinnen – ein Gedanke, den der konservative Vordenker Norbert Bolz aufgebracht hat.

Ego-Faschisten

Die Kategorisierung von Trump und Bolsonaro als Ego-Faschisten verweist auf einen Unterschied zu Hitler und Goebbels: Die Altvorderen vor 90 Jahren waren überwiegend Glaubensfaschisten, religiös geprägte Menschen, die sich als Vollstrecker eines göttlichen Auftrags sahen: Hitler nannte es die Vorsehung; Goebbels verglich Nazikundgebungen gerne mit Gottesdiensten; Robert Ley griff für seine »Deutsche Arbeitsfront« die Ideologie neopietistischer Freikirchen auf. Die heutigen Figuren dagegen sind eher Egomanen, die nur an sich selbst glauben. Trump, Bolsonaro und Berlusconi haben nicht als Politiker Karriere gemacht, sondern als Unternehmerpatriarchen, Fernseh-schauspieler, Bolsonaro als Offizier. Letzterer allerdings hat sich einer Baptistenkirche und dann einer christlich-fundamentalistischen »Pfingstbewegung« angeschlossen, die vom Medienunternehmer und Milliardär Ediar Macedo geführt wird.

Hemmungsloser Egoismus ist auch ein Grundmotiv der Anhängerinnen und Anhänger dieser Leute. Bespiel Klimawandel: Während in den 1990er und 2000er Jahren im Umfeld der Kohle-, Öl- und Autoindustrie noch die platte Leugnung des Klimawandels dominierte, konzentriert man sich dort mehr und mehr auf den Umgang mit den Folgen des allzu sichtbaren Klimawandels. Die Klimaschutzdemos fordern »climate justice«, »Klimagerechtigkeit«. Das heißt letztlich: Die Bevölkerung der reichen Länder muss auf einen Teil ihres Reichtums und ihrer gewohnten Bequemlichkeit verzichten, um Klimakatastrophen zu verhindern, denen Millionen von Menschen, überwiegend im Süden, zum Opfer fallen würden. Klima-Egoistinnen sehen das genau umgekehrt: Die Überbevölkerung ist schuld an den Problemen, und übervölkert sind in deren Sicht vor allem afrikanische Länder, Indien usw. Sie hoffen also auf Katastrophen, die die Weltbevölkerung dezimieren und sie, die reichen Egoisten, verschonen.

Und in Deutschland?

Für deutsche Antifaschistinnen und Antifaschisten ist es heikel, mit dem Finger auf Faschisten in anderen Ländern zu zeigen. Seit Liebknecht sind wir es gewohnt, den Hauptfeind im eigenen Land zu suchen. Eine Figur wie Trump oder sein Vorbild Berlusconi ist in Deutschland bislang nicht groß geworden. Das mag viele Gründe haben, z. B. den, dass es unter deutschen Unternehmern und Reichen als nicht schicklich gilt, sich in den Medien oder gar als Politiker zu exponieren. Die Herren und wenigen Herrinnen pflegen hier lieber die Diskretion. Die privaten Fernsehsender sind in Deutschland viel weniger deutlich politisch ausgerichtet als in USA oder Italien. Dennoch gibt es auch im heutigen Deutschland einige Parallelentwicklungen. Das betrifft vor allem die Rolle der Gewalt.

Die Rolle der Gewalt

Wer über Faschismus sprechen will, muss über Gewalt sprechen. Gewalt hat beim Aufstieg Mussolinis in Italien, beim Aufstieg Hitlers und der Nazis in Deutschland eine zentrale Rolle gespielt. Sie begann mit den politischen Morden der Jahre 1919-25, denen unter anderen Giovanni Amendola, Kurt Eisner, Matthias Erzberger, Karl Gareis, Hugo Haase, Gustav Landauer, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Giacomo Matteotti, Hans Paasche und Walter Rathenau zum Opfer fielen. Morde, die regelmäßig nicht klammheimliche, sondern offene Freude der deutschnationalen und faschistischen Presse auslösten und sogar bei Richtern, die über die Täter zu urteilen hatten, auf Sympathie stießen. Mussolini beendete im Januar 1925 die Krise, in die der Mord am Sozialisten Matteotti sein Regime gestürzt hatte, indem er im Parlament sinngemäß verkündete: Ich bin ein Mörder, und das ist gut so. Der Geist der Mordlust imprägnierte SA und SS, Hitlers Terrortruppen. Im April 1932 setzten mehrere Landesinnenminister und Reichsinnenminister Wilhelm Groener wegen der zahllosen Gewalttaten von SA- und SS- Männern ein Verbot der Schläger- und Mördertrupps durch. Das war einer der wenigen Versuche der Republik, sich gegen ihre faschistischen Feinde ernsthaft zur Wehr zu setzen. Nach dem Sturz des Reichskanzlers Brüning vereinbarten Reichspräsident Hindenburg, Reichswehrchef Kurt von Schleicher und der neue Reichskanzler Franz von Papen mit Hitler eine Aufhebung des Verbots. In der Folge gab es eine beispiellose Welle der Gewalt, die SA und SS gezielt in die Arbeiterviertel der deutschen Großstädte hineintrugen. Bis November 1932 kamen dabei 99 Menschen ums Leben. Sie endete, als die Regierung Papen vor der Reichstagswahl im November sämtliche Demonstrationen verbot. Auch dieser Akt schadete den Nazis deutlich und trug mit zu ihrer Wahlniederlage im November 1932 bei. In die kollektive Erinnerung vor allem der konservativen Deutschen ging ein, dass Hitler als Reichskanzler 1933 das Chaos von 1932, die endlosen Straßen- und Saalschlachten, beendet habe, wofür ihm die meisten Konservativen dankbar waren.

Trump, Bolsonaro und Le Pen geht es ebenfalls um eine Steigerung des Gewaltpotenzials ihrer Anhänger: Alle drei setzen sich entschieden für die Abschaffung von Waffengesetzen und Waffenkontrollen ein, damit sich Jäger, Sportschützen und mehr oder weniger geheime Milizen in USA, Brasilien und Frankreich mit allem bewaffnen können, was die Waffenindustrie zu bieten hat. Berüchtigt sind die Privatmilizen brasilianischer Rinderbarone, Holzräuber und Goldgräber, die den Widerstand von Indigenen und Naturschützern gerne in Blut baden. Bolsonaro hält seine schützende Hand über die Mörder und ihre Lieferanten in der Waffenindustrie. Bei Reden und Auftritten bildet er häufig mit der rechten Hand eine Pistole nach und feuert sie auf die Feinde ab, über die er spricht. Zahllose schwer bewaffnete Milizen bereiten sich in USA auf den Krieg „aller gegen alle“ vor, den sie nach dem erwarteten Zusammenbruch der staatlichen Ordnung herbeisehnen. Dass ein Präsident oder Ex-Präsident, also ein Repräsentant dieser Ordnung, ihnen dabei hilft, gehört zu den Widersprüchen, die Pickup-Potentaten nicht interessieren. In Frankreich hat es Marine Le Pen verstanden, die große Gruppe der Jäger hinter sich zu scharen – Männer und wenige Frauen, die Naturschützerinnen und Waffenkontrolleure als Erzfeinde betrachten.

Mörder, Waffenfetischisten, militante Raser

Deutsche Linksliberale glauben gern, sie seien hier vor Gewaltexzessen sicher. Weit gefehlt! Zwar ist es in Deutschland dank engmaschiger staatlicher Kontrollenschwieriger als in USA oder Brasilien, größere bewaffnete Milizen nach dem Vorbild der SA zu bilden. Aber kleine Gruppen von faschistischen Mördern finden immer wieder zusammen, vor allem da, wo sie Grauzonen am rechten Rande der Polizei und des Verfassungsschutzes nutzen können. Das war beim Zwickauer Mordkommando »NSU« der Fall und wahrscheinlich auch beim Mörder des hessischen CDU-Politikers Walter Lübcke. Diese Tat im Jahr 2019, der Messerangriff auf die Kölner OB-Kandidatin Henriette Reker 2015 und eine Welle von Morddrohungen haben Ähnlichkeiten mit dem faschistischen Mordterror der 1920er und frühen 1930er Jahre.

Auch in Deutschland gibt es eine gut organisierte Sportschützen- und Waffenlobby, die sich mit massiver Agitation gegen alle Versuche wehrt, Waffen stärker zu kontrollieren oder besonders gefährliche Waffengattungen zu verbieten. Nach dem Massenmord von Winnenden entstanden mehrere Organisationen, die für ein Verbot von massenmord-tauglichen Schusswaffen eintreten, darunter die von Roman Grafe geführte Initiative »Keine Sportwaffen als Mordwaffen«. Die Grüne Claudia Roth hat dieses Anliegen mit mehreren Anfragen und Gesetzesinitiativen im Bundestag unterstützt. Seitdem sind Roman Grafe, Claudia Roth und andere Aktive massiven Anfeindungen und Morddrohungen von gewaltaffinen Sportschützen ausgesetzt. Das gleiche Phänomen finden wir in der deutschen Raser- und Dränglerszene: Dort kursieren Mordaufrufe gegen Jürgen Resch, den Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe, seit dieser mit einer intelligenten Prozessstrategie gegen die notorischen Betrüger und Gesetzesbrecher in den deutschen Autokonzernen vorgeht und sich schwerpunktmäßig für ein Tempolimit einsetzt.4 Man erkennt die Autos der potenziellen Attentäter an Aufklebern, die eine typisch faschistische Hinrichtungsszene zeigen, dazu den Spruch »Don’t touch my car«.5 Vordergründig richtet er sich gegen Autodiebe, aber die Hintergedanken sind frei. Hitler lässt grüßen – auch er war ein mordlüsterner Autonarr.6 Die Kombination von Mordlust und Geschwindigkeitsrausch geht auf den italienischen Futuristen und späteren Faschisten Filippo Tommaso Marinetti zurück.

Desorientierte Gegner

Die sozialistisch-kommunistische Arbeiterbewegung konnte 1932/33 die Ermächtigung der Nazis nicht stoppen. Einer der Gründe für ihre Schwäche und Desorientierung war das Sektierertum in KPD und SPD. Die »Sozialfaschismus«-Theorie der Kommunisten lief darauf hinaus, in der SPD-Führung, also in Otto Wels und Otto Braun gefährlichere Faschisten zu sehen als in Hitler, Goebbels und Göring. In der SPD gab es die Tendenz, sich vor Thälmann mehr zu fürchten als vor Hitler. Gibt es auch dazu heute eine Parallele? Leider ja. Beispiele dafür sind der erbitterte Streit zwischen Feministinnnen und Aktivistinnen der transsexuellen Szene oder der akademische Streit um die sog. kulturelle Aneignung. Während fundamentalistische Theokraten und sog. Siedlerbewegungen dabei sind, mitten in Deutschland erzpatriarchalische Großfamilien zu reetablieren, in denen Männer ihre Frauen und Kinder wieder nach Herzenslust verprügeln und vergewaltigen dürfen, streiten sich Feministinnen und Transgender-Verteidigerinnen um die Frage, ob ein Drittelprozent der Bevölkerung eine Frauentoilette betreten darf. Während sich texanische Milizen dafür aufrüsten, nach der Klimakatastrophe, die „hoffentlich“ die meisten Menschen im Süden ausgerottet hat, die anströmenden Flüchtlinge mit Artillerie und Maschinengewehren niederzumetzeln, greifen die antikolonialistischen Aktivisten lieber Museen an, die afrikanische Kunst-werke zeigen. Ein verborgenes Hintergrundmotiv dürfte Feigheit sein. Man traut sich einfach nicht, die wirklich gefährlichen Gegner anzugreifen, eben weil sie gefährlich sind.

1 Wikipedia: Liste von Hindenburgstraßen

2 Das war 2016 das wichtigste Motiv bei Arbeitern im »Rust Belt« (Michigan, Illinois, Ohio, Pennsylvania), Trump zu wählen; nach Edward McClelland: The Rust Belt was turning red already. Donald Trump just pushed it along. Washington Post 9.11.2016. Trumps reale Wirtschaftspolitik kritisierte Rudolf Hickel: Der Präsident als Unternehmer. Donald Trump und der America-First-Imperialismus. Blätter für deutsche und internationale Politik Juni 2017

3 Alexandre Afonso: Die Arbeiterschaft für Le Pen (aber nicht für Mélenchon), die Führungskräfte für Macron. DeFacto 20.4.2022

4 Presseerklärung der DUH vom 3.6.2022 (duh.de)

5 Google: dont touch my car

6 Gernot Kremper: Mercedes-Benz 770K – Hitler war ein Autonarr… Stern.de o. J.

Jens Jürgen Korff, Oktober 2022

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