Der Zerfall einer Gesellschaft

geschrieben von Dr. Christoph Rass

8. November 2010

Wir stehen an diesem Tag zu dieser Stunde an diesem Ort, um der Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken. Wir erinnern an die Angehörigen der jüdischen Gemeinde dieser Stadt, die im Jahr 1938 fünf Jahre nationalsozialistischen Terror und wachsende gesellschaftliche Ausgrenzung, ja Gewalt erduldet hatten, an Menschen, deren Deportation in die Konzentrations- und Vernichtungslager kaum zwei Jahre später beginnen sollte, an Menschen, von denen nur wenige den Völkermord überlebt haben.

Wir sind an dem Ort zusammen gekommen, an dem die jüdische Gemeinde Aachens, die seit Jahrhunderten zu dieser Stadt gehörte, 1862 ihre neue Synagoge gebaut hatte. Wir stehen an dem Platz, der 1938 zum Symbol für den Zerfall einer Gesellschaft geworden ist, die sich gegen Menschen in ihrer Mitte gewendet hat. Heute steht hier eine neue Synagoge voller Leben und zeigt uns, dass die jüdische Gemeinde nicht aufgehört hat, ein Teil dieser Stadt zu sein.

„Jede Zukunft hat eine lange Vergangenheit.“ Dieses Zitat aus dem babylonischen Talmud hat Ignatz Bubis einmal zur Illustration seines Zugangs zur Geschichte gebraucht. Es soll heute unser Leitgedanke sein, wenn wir darüber sprechen, was die Gewalt, die das Nazi-Regime im November 1938 gegen die jüdischen Gemeinden überall in Deutschland entfesselt hat, für unsere Gesellschaft – damals wie heute – bedeutet. Viele von Ihnen kennen die verstörenden Bilder. Es ist der frühe Morgen des 10. November 1938 in Aachen. Die Synagoge hier in der Promenadenstraße brennt seit drei, vier Uhr in der Nacht. Feuerwehr und Polizei sind zur Stelle. Ebenso Hunderte von Aachenerinnen und Aachenern. Aus Richtung Gasborn strömen weitere Schaulustige auf den Platz. Es ist eine seltsame Szene. Ein Polizist und einige Feuerwehrleute halten die Menschen auf Abstand zum Brand. Gegenüber steht ein weiterer Uniformierter. Die Arme auf dem Rücken verschränkt blickt er auf die brennende Synagoge. Löschfahrzeuge sind vor den Nachbarhäusern vorgefahren. Niemand löscht. Baulücken verhindern die Ausbreitung des Feuers. Alles ist getan, damit die Zerstörung ungehindert ihren Lauf nehmen kann und sie ist bereits zur Attraktion geworden. Die Aachener sehen zu. Unter ihnen kleine Kinder, Jugendliche, ein paar Hitlerjungen, Männer in Geschäftsanzügen, alte und junge Frauen, einige Uniformierte. Es ist ein Donnerstag, man ist auf dem Weg zur Arbeit, zur Schule, unterhält sich, schaut auf das Feuer. Auf einigen Gesichtern glaubt man ein Grinsen zu erkennen. Andere wirken verstört.

Weiter oben in der Promenadenstraße hängt noch eine Hakenkreuzfahne. Übriggeblieben vom Festschmuck des Vortages. Am 9. November haben die Nazis mit Aufmärschen den Toten des Hitler-Putsches von 1923 gedacht. Man war mobilisiert. Seit Wochen hatte der Propagandaapparat mit einer Medienkampagne das Land in Pogromstimmung versetzt, hatte das Regime seine Maßnahmen gegen Juden in Deutschland verschärft, die Eskalation geplant. Das Attentat auf einen Botschaftsangehörigen in Paris und dessen Tod nahm man zum Anlass, dem Leiden der deutschen Juden eine weitere Dimension hinzuzufügen. Nackte Gewalt.

Das Pogrom der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 war inszeniert. SA und SS standen bereit und erhielten Befehle zum Überfall auf die Synagogen, Bethäuser, Wohnungen und Geschäfte jüdischer Bürger und auf diese selbst. Mancherorts hieß es, in dieser Nacht würden alle Juden getötet. Als die Befehle aus den Partei&- und Polizeistellen kamen, schlugen willige Täter gleichzeitig in mehr als tausend Städten und Gemeinden los. Und als die Schläger, Brandstifter und Mörder kamen, konnten sie sicher sein, dass niemand mehr für die Opfer eintreten würde. In der Nacht vom 9. auf den 10. November und in den Wochen darauf starben in Deutschland mindestens 800 Menschen als Opfer des Pogroms. Das Schicksal fast ebenso vieler Opfer ist bis heute ungeklärt. 1406 Betstuben und Synagogen wurden niedergebrannt oder verwüstet. Am Morgen nach dem Pogrom ging man in Aachen über das Glas zerbrochener Fenster, die Trümmer zerstörter Wohnungen und Schaufenster und über das Blut der Misshandelten seinen Geschäften nach, versammelte sich vor der brennenden Synagoge. Eine Stadt und ihre Bürger waren schuldig geworden. Die Täter kamen aus Parteigliederungen, aus der Verwaltung, sie waren Beamte, Arbeiter, Funktionäre, willige Vollstrecker, aber auch Aachener, Söhne, Väter, Brüder, Nachbarn – sie waren Teil dieser Gesellschaft. Die Zuschauer, manche entsetzt, betroffen, andere einverstanden, begeistert, einige aus auf Plündern und „Arisierung“, wieder andere gleichgültig – sie alle waren Teil dieser Gesellschaft.

Die Opfer, Angehörige der jüdischen Gemeinde Aachens, waren Deutsche, waren Bürger dieser Stadt, Teil dieser Gesellschaft. Der Antisemitismus, die Umsetzung der Rassenideologie, Diskriminierung und Ausgrenzung, der Weg in den Völkermord, waren keine Angelegenheit zwischen Nazis und ihren Opfern. Es war ein gesellschaftlicher Prozess in diesem Land, der alle betraf, und die Deutschen auf das größte Verbrechen der Geschichte vorbereitete, den Holocaust.

Am 9. November erblicken wir eine Gesellschaft, die zerfällt. Sie war zur einer „Volksgemeinschaft“ verkommen, die „Rasse“ zur Voraussetzung für Zugehörigkeit machte. An die Stelle von Vielfalt trat Ausgrenzung. In dieser „Volksgemeinschaft“ war es nur allzu leicht möglich, die alten, tief verankerten Ressentiments des Antisemitismus so zu mobilisieren und zu radikalisieren, dass zu viele Täter und zu wenige Helfer aufstanden. Terror tat ein Übriges, um die Zaghaften beiseite stehen zu lassen. Wer hätte kaum zehn Jahre zuvor glauben wollen, dass eine Gesellschaft, die in ihrer ersten Republik Emanzipation, Gleichberechtigung, Integration, Offenheit und Pluralismus schon in bemerkenswerter Weise erreicht hatte, bereit war, sich dem rassistisch durchtränkten Phantom einer „Volksgemeinschaft“ zu ergeben? Wer hätte es für möglich gehalten, dass die Deutschen bereit sein würden, für die Verheißungen der Nazis Menschen aus ihrer Mitte zu opfern?

Was also bedeutet es, wenn vor einigen Tagen in Köln junge Neonazis aus Aachen und Stolberg versuchen, das Straßenschild der Judengasse abzureißen, in Köln Pesch drei Mädchen jüdischen Glaubens getreten, bespuckt, beschimpft werden – von Tätern im Alter zwischen 11 und 15 Jahren -, ein Brandsatz die Synagoge in Mainz trifft und sich Aachener Neonazis Sprengstoff beschaffen? Was also bedeutet es, wenn im Nachdenken über die deutsche Migrationsgesellschaft und die Zukunft von Integration einzelne Gruppen von Einwanderern herausgegriffen und auf ein Merkmal – ihre Religion – reduziert werden? Was bedeutet es, wenn ihnen mit dem Hinweis, sie bedrohten die deutsche Kultur, der Weg in unsere Gesellschaft versperrt wird?

Was bedeutet es, wenn die Bevölkerung dieses Landes in Segmente genetischer Qualität geteilt und über ihren Wert geurteilt wird? Was bedeutet es, wenn die Zustimmung zu solchen Thesen aus der Mitte der Gesellschaft und aus so genannten Eliten wächst? Die nicht endende Schande antisemitischer Anschläge in Deutschland, wachsender Rassismus und eine aufgeheizte Stimmung gegen Zuwanderer, der Populismus nicht weniger Politiker, die Neupositionierung nicht weniger Intellektueller, gar der Ruf nach einem „starken Führer“, der Aufschrei der Wenigen und das Schweigen der Vielen im Angesicht von Tätern und Opfern – sie zeigen uns, dass unsere historische Verantwortung nicht erlischt. Sie zeigen uns, dass ein kritischer Umgang mit der eigenen Vergangenheit nicht irgendwann „erledigt“ ist.

Um eine verantwortbare Gestaltung unserer Zukunft müssen wir jeden Tag ringen. Keine Gesellschaft – das zeigt uns die Fratze der neuen Rechten in Deutschland und in Europa – ist gegen eine Wiederbelebung der schrecklichsten Ressentiments immun, kein gesellschaftlicher Fortschritt bleibt erhalten, wenn er nicht gehütet und verteidigt wird.

Wir denken heute an Menschen, die um diese Stunde vor 72 Jahren den Abend, die Nacht durchlebten, in der sich die Gesellschaft, zu der sie sich zugehörig fühlten, endgültig gegen sie wendete und ihre Welt brutal zerschlug. Wir erinnern an den Schmerz von Menschen, in Aachen und ganz Deutschland, als man ihnen ihre Sicherheit, ihr Glück, ihre Liebsten, ihre Träume, ihr Leben nahm. Dieser Schmerz muss auch in unseren Herzen sein. Ihr Leid und das Versagen der Mehrheit im Angesicht des Ungeheuerlichen mahnen uns diese Vergangenheit niemals zu vergessen – auch, um unserer Zukunft willen.