NATO-Gipfel in Vilnius
8. August 2023
Streitkräftemodelle, Verteidigungspläne und 2%-Jackpot
Am 30. August referiert der Referent Jürgen Wagner von der „Informationsstelle Militarisierung“ in der Aachener Volkshochschule zur Fragestellung „Aufrüstung für den Frieden?“. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir an dieser Stelle einen Beitrag von Jürgen Wagner zum NATO-Gipfel in Vilnius. Die Originalversion kann hier gelesen werden.
Noch 2019 attestierte der französische Präsident Emmanuel Macron der NATO, sie sei mehr oder weniger Hirntot – einige Jahre und einen russischen Angriff auf die Ukraine später, erweist sich das westliche Militärbündnis allerdings als quicklebendig. Bereits im Zuge des letzten Gipfels in Madrid traf das Bündnis weit reichende Entscheidungen, um künftig „besser“ gegen Russland gerüstet zu sein. Vieles was damals angeschoben wurde, erfuhr nun beim Gipfeltreffen in Vilnius am 11. und 12. Juli 2023 eine weitere Präzisierung und Verschärfung. Das gilt insbesondere für das NATO-Streitkräftemodell sowie den NATO-Verteidigungsplan – neu und von erheblicher Tragweite ist vor allem das neue Ausgabenziel, das nicht zuletzt mit den zusätzlichen Ressourcen begründet wird, die Verteilungsplan und Streitkräftemodell benötigen würden. Wird dieses Ausgabenziel umgesetzt, gehen damit Zusatzausgaben in dreistelliger Milliardenhöhe einher, was in vielen Ländern drastische Sparmaßnahmen erfordern wird. In Deutschland breiten interessierte Kreise bereits den Argumentationsteppich aus, dass man deshalb um Kürzungen bei den Sozialausgaben perspektivisch nicht herumkommen werde.
Deutschland vorn beim Streitkräftemodell
Voriges Jahr beschloss die NATO, ihre bisherige Präsenz von je einem Bataillon (~1.500 Soldat*innen) in den drei baltischen Staaten und Polen, um vier weitere Länder der Ostflanke zu erweitern (Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien) und die Truppengröße zumindest in einigen Ländern auf Brigadestärke (~3.000-5.000 Soldat*innen) auszubauen. Im Vorfeld des Vilnius-Gipfels erklärte in diesem Zusammenhang Deutschland Ende Juni jetzt als erstes NATO-Mitglied seine Bereitschaft, das von ihm geführte litauische NATO-Bataillon dementsprechend auszubauen – sofern die NATO dies für vereinbar mit den übrigen Verteidigungsplänen erklären würde, was kurz vor Gipfelbeginn geschah. 4.000 Soldat*innen der Bundeswehr sollen in Litauen stationiert werden – hinzu kommen ihre Familien, Kindergärten, Schulen, Supermärkte usw. (siehe IMI-Analyse 2023/29). Inzwischen wird hier mächtig auf Tempo gedrückt – noch während des Vilnius-Gipfels war zu lesen: „Das Vorhaben, eine deutsche Brigade in Litauen dauerhaft zu stationieren, wird konkreter. In den kommenden Monaten sollen die Pläne zur Umsetzung ausgearbeitet werden und noch vor Ende des Jahres beschlossen werden.“(Europäische Sicherheit und Technik, 12.7.2023)
Ganz vorne dabei ist Deutschland auch beim neuen NATO-Streitkräftemodell (NSM), das ebenfalls voriges Jahr auf den Weg gebracht wurde. Es sieht vor, 100.000 Soldaten und Soldatinnen innerhalb von zehn Tagen, weitere 200.000 bis Tag 30 und zusätzliche 500.000 bis Tag 180 mobilisieren zu können: Deutschland hat für den ersten Bereitschaftsgrad bis 2025 eine voll ausgestattete Division (~15.000-20.000 Soldat*innen) zugesagt, 2027 soll ein zweiter und bis 2030 ein dritter dieser Großverbände folgen. Das ist ein – vorsichtig formuliert – ambitioniertes Vorhaben, das in die Entwicklung eines neuen Verteidigungsplans eingebettet ist, der auf dem Vilnius-Gipfel verabschiedet wurde.
Verteidigungsplan: Militarisierung jedes Winkels
Allzu viel Konkretes ist über den neuen NATO-Verteidigungsplan nicht in Erfahrung zu bringen, seine Details sind unter Verschluss. Er soll mehrere tausend Seiten umfassen, in denen laut Die Welt (13.7.2023) bis ins kleinste Detail und über die gesamte Ostflanke Soldat*innen und Gerät geografisch zugeordnet werden: „Die insgesamt mehr als 4000 Seiten starken Verteidigungspläne beschreiben detailliert, wie kritische Orte im Bündnisgebiet durch Abschreckung geschützt und im Ernstfall verteidigt werden sollten. Als mögliche Orte für einen Angriff gelten das Grenzgebiet zwischen Norwegen, Finnland und Russland, das Baltikum, aber auch die Schwarzmeerküste mit den Nato-Mitgliedern Rumänien und Bulgarien. In den Plänen wird auch definiert, welche militärischen Fähigkeiten notwendig sind. Neben Land-, Luft-, und Seestreitkräften sind auch Cyber- und Weltraumfähigkeiten eingeschlossen.“
In den als besonders „kritisch“ eingestuften Regionen soll die NATO-Vorwärtspräsenz erhöht werden, wie dies im Falle der deutschen Ankündigung einer Litauen-Brigade bereits im Gange ist. Auch Kanada will seine Präsenz in Lettland um bis zu 1200 zusätzliche Militärs erhöhen, wie vor wenigen Tagen bekannt gegeben wurde. Ob es absehbar auch zu einem weiteren Ausbau in der ohnehin bereits hochgradig militarisierten Schwarzmeerregion kommt (siehe IMI-Studie 2023/1), bleibt abzuwarten, ist aber ebenfalls alles andere als ausgeschlossen.
Generell sollen nun wieder klare regionale Zuständigkeiten existieren, denn genau genommen wurde nicht ein, sondern drei regionale Verteidigungspläne auf dem NATO-Gipfel verabschiedet: „Ein Plan beschäftigt sich mit der Sicherung des hohen Nordens sowie des Atlantikraums, die von Norfolk in den USA aus organisiert werden soll. Das Hauptquartier im niederländischen Brunssum ist für die Umsetzung des zweiten Plans zuständig, der Mitteleuropa vom Baltikum bis zu den Alpen abdeckt. Das dritte, ebenfalls als geheim eingestufte Dokument beschreibt den Schutz von Südosteuropa, inklusive des Schwarzen Meers und des Mittelmeers. Dies soll von Neapel geplant werden.“ (Süddeutsche Zeitung, 12.7.2023)
Entscheidend ist, dass es für diese Verteidigungspläne zwar detaillierte Auflistungen gibt, wieviel Personal und Material wo benötigt wird – vorhanden ist dies damit aber noch lange nicht. Und das liefert wiederum die Rechtfertigung für eine immense Aufstockung des NATO-Ausgabenziels, die ebenfalls in Vilnius unter Dach und Fach gebracht wurde.
2%-Jackpot: Rüstung durch Sozialabbau
Das aktuelle NATO-Ausgabenziel („Defence Pledge“) stammt aus dem Jahr 2014, als sich die Mitgliedsländer beim Gipfeltreffen in Wales darauf verständigten, sich bis 2024 „in Richtung“ von Militärausgaben von 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) zu bewegen. Die Formulierung als Richtwert hatte im Prinzip keine rechtlich bindende Wirkung, was zur Folge hatte, dass sich eine Reihe von Staaten – 19 der 31 Mitglieder – bislang teils deutlich unter diesem Ausgabeziel bewegen.
Damit soll jetzt Schluss sein – der Wortlaut der Abschlusserklärung, dem alle Mitgliedsstaaten zugestimmt haben, lässt hier wenig Spielraum mehr: „wir verpflichten uns dazu, jährlich mindestens 2 Prozent des BIP für die Verteidigung auszugeben“, dies sei erforderlich, um „die neuen NATO-Verteidigungspläne und das Streitkräftemodell mit Ressourcen auszustatten.“ (Ziffer 27) Zwar wird kein konkretes Jahr genannt, vermutlich soll die neue Regelung aber wohl bereits 2024 gelten – womöglich mit gewissen Übergangsfristen für Länder, die besonders drastische Erhöhungen schultern müssen. Jedenfalls ist relativ klar, dass es sich hier nun um eine verbindliche Untergrenze handeln soll: „Beim Nato-Gipfeltreffen beschlossen die Regierungen daher eine verbindlichere Sprachregelung: Sie blieben zwar bei der Investitionssumme von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung. Diese ist allerdings kein Richtwert mehr, der eine Obergrenze beschreibt. Stattdessen sind die zwei Prozent künftig eine Untergrenze – ein Minimum, zu dem die Nato-Länder sich ‚dauerhaft verpflichten‘. Für manche Länder wird das zu erheblichen Mehrausgaben für das Militär führen.“ (Süddeutsche Zeitung, 11.07.2023)
Dabei ist es wichtig, sich immer wieder vor Augen zu führen, wie verharmlosend 2% des BIP angesichts der Dimensionen klingen, um die es hier tatsächlich geht. Tatsächlich redet man hier im deutschen Fall von Militärausgaben in Höhe von rund 20% des gesamten Haushaltes (siehe IMI-Standpunkt 2023/025). Noch vor Beginn des russische Angriffs auf die Ukraine beliefen sich die Militärausgaben der NATO auf 1174 Mrd. Dollar und die Russlands auf 62 Mrd. Dollar. Die NATO-Ausgaben stiegen seither auf 1264 (2023) an, bei Russland auf 82 Mrd. Dollar (2023). Bei einer Umsetzung des NATO-Ausgabenziels kämen weitere 357 Mrd. Dollar hinzu – oder allein das Vierfache des gesamten russischen Militärhaushaltes (Daten Statista, Sipri oder NATO und eigene Berechnungen siehe Tabelle).
Man mag sich überhaupt nicht vorstellen, welche Kürzungsorgien ein Land wie Spanien, das aktuell 19 Mrd. Euro für sein Militär ausgibt (entspricht 1,26% des BIP), der Bevölkerung aufnötigen müssen wird, um die zusätzlichen 11 Mrd. Dollar loszueisen, die für eine Erreichung des NATO-Ausgabenziels von 2% des BIP erforderlich wären. In Deutschland werden kommendes Jahr wohl erstmals die 2% des BIP erreicht – allerdings nur durch die Entnahme von 19,2 Mrd. Euro aus dem Sondervermögen. Wenn dieser Schuldentopf spätestens 2026 aufgebraucht ist, wird auch hierzulande das NATO-Ausgabenziel nur durch eine massive Kürzung des Sozialhaushaltes erreichbar sein (siehe IMI-Standpunkt 2023/025).
Kein Wunder fordern interessierte Kreise hierzulande bereits jetzt, Vorbereitungen auf die anstehenden Debatten zu treffen. Im führenden deutschen Militärmagazin hieß es schon vor dem NATO-Gipfel, man stehe vor der Wahl, „entweder die Kürzung sozialer Leistungen oder das Scheitern der Zeitenwende für die Bundeswehr.“ (Europäische Sicherheit & Technik, 4.7.2023)Noch während des Vilnius-Gipfels legte dasselbe Magazin in dieselbe Richtung nach: „Zudem wird das neue Zwei-Prozent-Minimum von Vilnius, also die massive Erhöhung der Verteidigungshaushalte vieler Mitgliedstaaten, für fundamentale gesellschaftliche Debatten sorgen. Eine Diskussion, die insbesondere Deutschland bevorsteht, sobald das Sondervermögen ausgebeben ist.“ (Europäische Sicherheit & Technik, 11.7.2023)