Der deutsche Militarismus war nie tot
20. Oktober 2024
Befreiung vom Faschismus, Demokratie, Friedensbewegung, Kapitalismus, Tag der Befreiung vom Faschismus
Ein Beitrag der VVN-BdA Aachen zum 80. Jahrestag der Befreiung Aachens vom Faschismus als Reader erschienen
Am 21. Oktober 1944 hisste Kampfkommandant Oberst Gerhard Wilck in seinem Befehlsstand, dem Luftschutzbunker Rütscherstraße, die weiße Fahne und ließ seine Kapitulationserklärung an den amerikanischen Kommandeur überbringen. Der Krieg sollte noch 199 Tage bis zum 8. Mai 1945 toben, doch für Aachen war er nun vorbei.
Mit einer Veranstaltungsreihe geht die VVN-BdA der Frage nach, was aus den Chancen eines Neuanfangs wurde.
Ein Ergebnis dieser Veranstaltungsreihe ist der Reader „Der deutsche Militarismus war nie tot“. Wir bieten ihn hier zum Download an:
- Druckversion (booklet für Vor- u. Rückseite, am kurzen Rand spiegeln; 68 Seiten)
- Bildschirmversion (123 Seiten)
Das Heft ist bei den Mitglieder der VVN-BdA und auf unseren Veranstaltungen zum 80. Jahrestag erhältlich. Kostenfrei. Über eine Spende von ca. 5 € freuen wir uns.
Inhaltsverzeichnis
1 Zum Geleit
2 Friedensbewegung in Aachen 1944–1990
3 Deutsche Kriegspolitik 1990-heute
4 Antifaschistische Konsequenzen aus dem Spannungsverhältnis von Demokratie und Kapitalismus
Aus dem Reader:
Zum Geleit
Am 21. Oktober 1944 hisste Kampfkommandant Oberst Gerhard Wilck in seinem Befehlsstand, dem Luftschutzbunker Rütscherstraße, die weiße Fahne und ließ seine Kapitulationserklärung an den amerikanischen Kommandeur überbringen. Der Krieg sollte noch 199 Tage bis zum 8. Mai 1945 toben, doch für Aachen war er nun vorbei.
Die wenigen Aachener, die trotz des Evakuierungsbefehls noch in der Stadt weilten, konnten wieder aufatmen, selbst wenn sie nur in Trümmern lebten. Es wurde nicht mehr geschossen, es fielen keine Bomben mehr. Die Gefahr, als „Verräter“ kurzerhand am nächsten Baum oder als „Brotdieb“ standrechtlich erschossen zu werden, war vorbei. Es gab keine Dienstverpflichtung für die Rüstungsindustrie und kein Verheizen im „Volkssturm“ mehr, die ständige Gefahr einer Denunziation bei der Gestapo war vorbei.
Schon ein knappes halbes Jahr später konnten in Aachen Überlebende des Faschismus die Gewerkschaft wiederaufbauen und gründeten am 18. März 1945 den „Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB)“. „Wir wollen nicht, dass unsere Nachkommen wieder in ein Völkerringen gestürzt werden“, verkündete Anna Braun-Sittarz auf der Gründungsversammlung, und die ersten drei Forderungen des 13-Punkte-Programm des FDGB Aachen suchten die Chancen auf einen Neuanfang in Frieden:
- Mithilfe zur Verständigung der Völker untereinander und Zusammenarbeit mit den Gewerkschaftsbewegungen der Welt
- Aufklärung durch Wort und Schrift, insbesondere bei der Jugend, über die Verständigung der Völker untereinander
- Kampf gegen preußischen Militarismus und Faschismus
Nach Aachen zurück kam zu Fuß und völlig entkräftet auch Anton Gallwe. Als Antifaschist musste er 1933 untertauchen, wurde dann aber aufgrund polizeilicher Listen und Denunziation verhaftet und war bis 1945 Gefangener des Naziregimes.
Die VVN-BdA, die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“ ist 1947 von Menschen wie Anton Gallwe, von den überlebenden Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfern gegründet worden. Es ist unser Anliegen, ihr Vermächtnis in die Gegenwart zu bringen, damit von deutschem Boden nie wieder Faschismus und Krieg ausgeht.
Wir fragen in diesem Heft, was ist aus den Forderungen des FDGB und dem Vermächtnis der Buchenwalder KZ-Häftlinge geworden? Sind wir gefeit davor, nicht wieder in Barbarei und Krieg zurückzufallen?
Die Stadt Aachen wirft 80 Jahre später einen düsteren Schatten auf eine Zukunft in „Frieden und Freiheit“. Sie hat einen Weg eingeschlagen, der eng mit Kriegstreiberei, Kriegslügen und atomarem Aufrüstungswahn verbunden ist. Denn als Festredner zum Jahrestag der Befreiung von Faschismus und Krieg durfte Joschka Fischer sprechen.
Joschka Fischer ist wesentlich verantwortlich für die Beteiligung Deutschlands am ersten Krieg auf europäischem Boden. Die NATO beginnt am 24. März 1999 ihren völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Deutsche Soldaten sind beim Überfall mit dabei, in Marsch gesetzt von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), Außenminister Joseph »Joschka« Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) und Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD). 78 Tage lang werden Städte, Infrastruktur, Fabriken bombardiert.
Der WDR sollte später eine Dokumentation über die deutsche Kriegsbeteiligung senden mit dem Titel „Es begann mit einer Lüge“. Systematische Desinformation, Fake News, Lügen – das praktizierte die NATO lange, bevor es Twitter, Facebook, VK, Telegram und Tik Tok gab. 1999 sitzen die wirkmächtigen Trolle im Brüsseler Hauptquartier und den nationalen Ministerien, die der Bevölkerung täglich einen Krieg verkaufen, der Völkerrecht bricht und länger dauert, als seine Planer je dachten. UÇK-Kommandeur Hashim Thaçi, der im Juni 2020 vom Haager Tribunal wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit während des Kosovo-Krieges angeklagt werden wird, kann im ZDF von Konzentrationslagern im Kosovo berichten. Im Stadion von Priština seien 100.000 Menschen interniert. In einem anderen KZ seien 20.000 Menschen gefangen. Über den Verbleib von 5.000 Kosovo-Albanern, die von serbischen Sicherheitskräften in einer Schule gesammelt worden seien, sei seit Tagen nichts bekannt. In der Presse ist in dicken Lettern zu lesen, „Serben-Killer treiben Albaner in KZ-Zonen“. Nichts davon ist wahr, wird nach und nach klar. Brigadegeneral Heinz Loquai berichtete später, „Der Krieg verhinderte die Katastrophe nicht, sondern machte sie … erst möglich“. Diesen Krieg hat der Festredner Aachens zu verantworten. Während inzwischen 51 Staaten den Atomwaffenverbotsvertrag der UNO ratifiziert haben, bleibt Fischer auf Militarisierungskurs und fordert eine europäische Atombombe.
Der Jugoslawienkrieg markiert die „Zeitenwende“, er holte den Krieg nach Europa zurück. Ausgerechnet einen der Verantwortlichen dieser Verletzung des Völkerrechts die Lehren aus 80 Jahre Befreiung ziehen zu lassen, das ist nur zu verstehen unter den Vorzeichen einer allseitig erstrebten „Kriegstüchtigkeit“.
In diesem Heft beschreiben wir das Ringen um Frieden und sozialen Fortschritt seit dem 21. Oktober 1944. Die Menschen konnten von großen Chancen für einen friedlichen Neuanfang ausgehen. Wirkmächtige Gewerkschaften entstanden, die Friedensbewegung bestimmte über Jahrzehnte die politische Agenda. Doch das Resüme ist bitter.
Unser Hefttitel „Der deutsche Militarismus war nie tot“ trifft heute leider wieder zu. Wir erinnern an die Wiedereinweihung der Potsdamer Garnisonkirche dieses Jahr. Kein anderes Bauwerk in Deutschland repräsentiert die preußische Kriegspolitik so deutlich wie der „Geist von Potsdam“, in dem 1933 das deutsche Bürgertum per Handschlag die politische Macht an Adolf Hitler übertragen hat. Die Reaktivierung der Garnisonskirche hat keine Hinterbänkler vorgenommen, es war der Bundespräsident höchstpersönlich, der Deutschland den Weg in einen (neuen) Militarismus wies. Wir erinnern an die Fortsetzung der wilhelminischen Kanonenbootpolitik gegen das kolonisierte China – diese Politik wurde mit der ganzen Symbolik wieder aufgegriffen, als ein deutsches Kriegsschiff zur Provokation der VR China durch die Taiwanstraße geschickt wurde, um weltweite Kampfbereitschaft für deutsche Werte zu demonstrieren.
Während sich der erste Teil unseres Heftes zum 80ten Jahrestag der Befreiung von Faschismus und Krieg der Frage der Remilitarisierung und der erneuten Herstellung von Kriegstüchtigteit“ widmet, werfen wir im zweiten Teil einen Blick auf die Restauration des Kapitalismus in Deutschland.
Die „Zerschlagung des Faschismus mit seinen Wurzeln“ – wie es im Schwur der überlebenden Häftlinge von Buchenwald hieß – beinhaltete die Erkenntnis, dass es die wirtschaftlich Mächtigen waren, die ein nicht nur ökonomisches Interesse an der Errichtung und Stabilisierung der faschistischen Herrschaft hatten. 1946 forderten 77,56 % in einer Volksabstimmung in Sachsen die entschädigungslose Enteignung von Nazi- und Kriegsverbrechern sowie im selben Jahr in Hessen ebenfalls über 76,8 % in einer separaten Volksabstimmung die Sozialisierung der Schlüsselindustrie. In unserem Heft müssen wir leider resümieren, dass mit dem (vorläufigen?) Sieg des Neoliberalismus auch auf diesem Feld alle Chancen eines Neuanfangs verspielt wurden.
Spaß können wir der Leser:innenschaft dieses Heftes nicht verkünden. Wir hoffen Erkenntnisgewinn, Zuversicht und Mut zu demokratischem Handeln zu schaffen. „Denn ewig kanns nicht Winter sein.“ (Lied der Moorsoldaten)