Ein stiller Kämpfer – Ein Nachruf für Werner Landscheidt (1929-2015)

24. Oktober 2015

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Werner Landscheidt, der in der Nacht zum 12. Oktober 2015 verstarb, war einer der letzten Zeitzeugen der Aachener Friedensbewegung. Für viele junge – und heute erwachsene – Menschen war er eine ihrer bedächtigsten und zugleich wichtigsten Persönlichkeiten.

Gedenkstunde Tag der Befreiung 8. Mai in Würselen am VVN-Denkmal

Werner stammte ursprünglich aus Kleve und erzählte oft vom Niederrhein. Dort tobten in der Endphase des Zweiten Weltkriegs die Kämpfe besonders heftig. In der „Schlacht im Reichswald“ fielen noch im Februar 1945 über 10000 deutsche und alliierte Soldaten. Den gesamten Krieg sowie die Nachkriegszeit erlebte Werner als Kind, Jugendlicher und junger Mann. Politik spielte schon in seiner Familie eine große Rolle. Sein Vater war in der Weimarer Republik Gewerkschafter und Sozialdemokrat. Aber gerade die eigenen Kriegs- und Nachkriegserfahrungen waren Werners Lebensthema. Zusammen mit seinem im Januar 2015 verstorbenen Freund Hein Kolberg gehörte er zu den organischen Intellektuellen der Stadt Aachen. Denn die Erinnerung an den Krieg beschränkte sich bei Hein und Werner nicht – wie bei anderen Kriegsteilnehmern – aufs anekdotenreiche Fabulieren oder – wie bei Historikern – auf den gelehrt-dozierenden Gestus. Hein und Werner erzählten Geschichten, damit die Erinnerung an das Grauen nicht versiegt, damit künftige Generationen daraus lernen können. Die Losung „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“ wurde von ihnen beeindruckend vorgetragen.

Es müssen über Tausend Schülerinnen und Schüler in Stadt und Städteregion gewesen sein, die den Beiden in den letzten Jahrzehnten zugehört haben. In den Zeitungsarchiven der Region finden sich zahlreiche Hinweise auf die Auftritte von Hein und Werner, die ihr jugendliches Publikum und deren Lehrer ungemein zu fesseln vermochten. Dass sie dabei auch, wie Werner lakonisch erzählen konnte, auf konservativ vernagelte Schuldirektoren trafen, die Hein und Werner aufgrund ihrer linken Biografie für nicht präsentabel hielten (Hein war Kommunist, Werner kam aus der DFU, der heute fast vergessenen „Deutschen Friedensunion“), spricht Bände über die geistige Lage der Bundesrepublik bis in die frühen 1990er Jahre. Das Erzählen war für die Beiden ein politischer Akt, ihre Geschichten waren eine antifaschistische Mahnung – und ein Vermächtnis an die späteren Generationen.

Wer mit Werner politisierte, landete im Verlaufe des Gesprächs fast immer beim Zweiten Weltkrieg. Dabei gab es Geschichten, die er den Schülerinnen und Schülern vorenthalten hat. Geschichten, die dramatisch zeigten, was er durchlitten hat. Er erzählte dann von Giftgasopfern, deren Leichen grotesk verkrümmt in den Trümmern aufgefunden wurden und die mit der Schaufel bearbeitet werden mussten, damit sie in ihre kargen Särge passten. Für andere gab nur ein Massengrab. Werner musste diese grausamen Arbeiten als junger Mann verrichten. Die Erinnerung daran hat ihn nie losgelassen. Werner war Jahrgang 1929, seine eigene Schulzeit endete 1944. Sein Jahrgang gehört zur sogenannten „Flakhelfergeneration“, zu der auch linke Prominente wie Dieter Hildebrandt oder Günter Grass zählten. Jahrgänge wie der seine wurden in letzter Minute eingezogen, damit die Jungspunde an der Flak noch „den Feind“ bekämpfen konnten. Es lag bis zuletzt ein Staunen in seiner Stimme, wenn er vom Fanatismus der jungen Soldaten erzählte, die tagelang nicht geschlafen und kaum gegessen hatten und die dennoch bis zum letzten Atemzug durchhalten wollten. Die „dem Führer“ ihr Leben opferten. Wenn Werner von der „Hitler-Jugend“ erzählte, berichtete er nüchtern vom Alltag im Nationalsozialismus, von der Normalität des Militarismus, der Disziplinverordnung und des Drills, der Ideologie und der Propaganda. Ausführlich konnte er über die Rolle des „Jungvolks“ oder den Erfolg von „Kraft durch Freude“ (KdF) berichten, beklemmend die Zustände in den Internierungslagern beschreiben. Werner war ein lebendes Geschichtslexikon, das freilich keine Blätter, sondern eine sanfte Stimme hatte.

Werners Leben bietet zudem reichlich Stoff für eine Geschichte der bundesrepublikanischen Linken. Er war ein großer Chronist der Nachkriegszeit mit einem Sinn für die Löcher im Gemälde von den „Goldenen Jahren“ des „Wirtschaftswunders“. Für Zeitzeugen wie ihn war die Rede von der „Stunde Null“ eine Lüge. In Kleve lernte er einen Kommunisten kennen, mit dem er diskutierte und der sein politisches Bewusstsein schärfte, ihn nach links rückte. 1952 begann Werner sein Studium an der FH in Mainz. Das unpolitische Klima dort schreckte ihn ebenso ab wie der Karrierismus vieler seiner Kommilitonen. Werner war ein Oppositioneller. Seine Tätigkeit als Architekt war für ihn eine politische Tätigkeit.

Bei allen grauenhaften Erinnerungen konnte Werner auch ein amüsanter Erzähler mit Blick für die komischen Details der menschlichen Tragödien sein. Einmal erinnerte er sich an einen Streit im Internierungslager. Die Insassen mussten aus alten Öldosen eine scheußliche Wassersuppe löffeln – und in einem Fall schien es, als zeige sich auf der Oberfläche ein süffiges, fast schon schmackhaftes Fettauge. Für Futterneid bestand jedoch keinerlei Anlass, wie Werner belustigt vermerkte. Es war bloß ein mickriger Ölrest ohne jeden Nährwert. Auch die späteren Jahre fanden in ihm einen aufmerksamen Beobachter. Werner konnte von seinen Solidaritätsreisen in die DDR berichten, als hätte er die Szene, in der die Repräsentanten der westdeutschen Friedensbewegung von ihren DDR-Gastgebern unangenehm aufdringlich hofiert wurden, in einem Billy-Wilder-Film gesehen. Auch die lokalen Wirrnisse um die Kandidatur der „Friedensliste“, ein linkes Sammelbündnis in den späten Achtzigern, gerieten in der Darstellung von Werner zur durchaus heiteren Angelegenheit. Und er konnte farbenfroh von seiner Haiti-Reise für den „Aachener Friedenspreis“ berichten, die er Anfang der Neunziger Jahre unternahm. Das Abendteuer endete in einem Fiasko, von dem er im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Zahnfleisch wiederkehrte. Selbst von diesem persönlichem Roadmovie ohne Happy-End erzählte Werner witzig, ohne Bitterkeit.

Werner hatte allen Grund, all jenen die Pest an den Hals zu wünschen, die für Elend, Ausbeutung und Krieg verantwortlich waren und sind. Aber man konnte sich ihn nicht in der Rolle des lautstark zürnenden Agitators vorstellen. Werner war ein eher stiller und feiner Mensch, der frei von jedem Geltungsdrang vor sein junges Publikum trat und dem vordergründig das rote Feuer des revolutionären Rhetors fehlte. Aber in ihm loderte eine starke Glut, die die Erinnerung wach und lebendig hielt. Seit Jahren plagten ihn starke Schmerzen, aus denen er kein Hehl machte. Über Jahre schlief er schlecht. Er saß dann vorm Nachtprogramm oder las in seinen zahllosen Büchern – und freute sich dennoch auf die allmorgendliche Tageszeitung, seinem Tor zur Welt. Werner hat viele, sehr viele Demonstrationen, Gedenkfeiern oder Diskussionsveranstaltungen besucht, ist nach Buchenwald gefahren, hat sich stundenlang mitten im Regen auf Mahnwachen gegen Abschiebungen oder Antisemitismus die Beine in den Bauch gestanden, obwohl er eigentlich allen Grund hatte, das Bett zu hüten. Aber aufgeben war seine Sache nicht. Noch am Sonntag war er auf dem Sterbebett für kurze Momente dem Leben zugetan – und wünschte der Alemannia drei Punkte gegen den Tabellenletzten.

Bei Brecht heißt es in den letzten Zeilen seiner Kantate zu Lenins Todestag:

„Die Schwachen kämpfen nicht. Die Stärkeren

Kämpfen vielleicht eine Stunde lang.

Die noch stärker sind, kämpfen viele Jahre. Aber

Die Stärksten kämpfen ihr Leben lang. Diese

Sind unentbehrlich.“

Werner war auf seine stille, unaufdringliche Art einer der Stärksten. In den späten Achtzigern, als ich ihn zum ersten mal als Person wahrnahm, dachte ich immer, er wäre der jüngere Bruder von Hein. Irgendwann, so vor 15 Jahren, haben wir nach einer Mahnwache zusammen einen Kaffee getrunken. Das Öcher Regenwetter war lausig, die stumme Kundgebung erfolglos. Der Flüchtling, für den wir uns tagelang engagierten, wurde abgeschoben. An dem Nachmittag kehrten wir in einer Gaststätte ein – und Werner hat angefangen, mir aus seinem Leben zu berichten. Ich habe in den späteren Jahren viel von ihm lernen und erfahren können. Viel zu selten haben wir telefoniert, viel zu selten habe ich ihn und seine langjährige Lebensgefährtin Angela besucht, viel zu selten waren die Kinder dabei. Die Kleinen wuselten dann über den Boden, spielten mit dem Hund, bestaunten die vielen Bilder und Bücher oder den wild wuchernden Garten.

Das 20. Jahrhundert, Werners Jahrhundert, war ein „Zeitalter der Extreme“, wie der Historiker Eric J. Hobsbawm so eindrucksvoll nachweist. Ein Zeitalter der Ideologien und Kriege, der Verfolgung und des Terrors, der Propaganda und des Irrsinns – auch auf der eigenen Seite. Mit Werner konnte man breit diskutieren. Die Lehren aus der Geschichte waren für ihn klar: Er richtete sich nach dem „Schwur von Buchenwald“ – die Forderung nach der „Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln“ war auch seine persönliche Losung.

Wenn ich meinen Kindern später von Kämpfern für eine Welt ohne Ausbeutung erzählen werde, werde ich ihnen auch von Werner Landscheidt berichten.

Er ist in vielerlei Hinsicht unentbehrlich.